Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert by Ulrich Herbert

Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert by Ulrich Herbert

Autor:Ulrich Herbert [Herbert, Ulrich]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
ISBN: 9783406661372
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Prag und Bonn

Während in der DDR die zaghaften Reformansätze in Gesellschaft und Kultur seit dem Dezember 1965 zugunsten eines harten Kurses revidiert wurden, verlief die Entwicklung in anderen Ländern des RGW anders. Auch hier waren die wirtschaftlichen Probleme erheblich, die Anstöße zu tiefgreifenden Wirtschaftsreformen jedoch, vor allem in Polen, Ungarn und der CˇSSR, stärker mit kultureller Öffnung und freien Diskussionen verbunden – was die SED scharf kritisierte, denn, so Kulturminister Gysi, erfahrungsgemäß könne «jede geistige Diskussion in eine politische» umschlagen.[54]

In der CˇSSR gingen auch die Wirtschaftsreformen weiter als in der DDR. Hier versuchten die Reformer in der Kommunistischen Partei, in die sozialistische Wirtschaft marktwirtschaftliche Elemente einzubauen und zugleich eine plurale politische Debatte zuzulassen. Das stieß zwar schnell auf den Widerstand des konservativen Parteiflügels, der 1967 wieder die Oberhand gewann und gegen politische Kritiker und Schriftsteller hart vorging. Mit der Wahl Alexander Dubcˇeks im Januar 1968 zum KP-Chef setzten sich aber die Reformer durch und forcierten einen Demokratisierungsprozess, der im Westen bald als «Prager Frühling» bezeichnet wurde. Aufhebung der Zensur, grundlegende Wirtschaftsreformen und eine Neubestimmung der Rolle der Kommunistischen Partei waren die wichtigsten Ziele. Der Sozialismus solle beibehalten werden, jedoch ein «menschliches Antlitz» erhalten. Die durch die Anstöße aus der KPCˇ ausgelöste Dynamik ließ in der Bevölkerung allerdings schnell weiter reichende Erwartungen entstehen, die zum Teil an den Verhältnissen in Jugoslawien ausgerichtet waren, vor allem aber sozialdemokratische Züge trugen. Insbesondere das Ende Juni 1968 publizierte und von zahlreichen Schriftstellern und Intellektuellen unterschriebene «Manifest der 2000 Worte» fasste diese weiter gehenden Zielsetzungen einer pluralistischen Demokratie zusammen.[55]

In der Sowjetunion war der Reformkurs der KPCˇ von dem neuen Parteichef Breschnew zunächst gutgeheißen und als innere Angelegenheit der CˇSSR bezeichnet worden. Als die Demokratisierungsforderungen sich aber ausdehnten und es auch in Warschau zu Studentendemonstrationen kam, sah die Sowjetunion Parallelen zu 1956 und verschärfte den Ton gegenüber Prag. Im März forderten die Führer des Warschauer Pakts in Dresden Dubcˇek zur Rücknahme der Reformen auf. Vor allem die Parteichefs der DDR und Bulgariens verlangten schon früh ein scharfes Eingreifen, nicht zuletzt unter Hinweis darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland versuche, in der CˇSSR Einfluss zu gewinnen. Am 20. August 1968 schließlich marschierten Truppen aus der Sowjetunion, Polen, Ungarn und Bulgarien in die Tschechoslowakei ein und beendeten das Reformexperiment. Die Truppen der Nationalen Volksarmee der DDR, welche die Intervention mit vorbereitet hatten, blieben jedoch an der Grenze stehen und sicherten den Nachschub. Die Erinnerungen an den deutschen Einmarsch in Prag neunundzwanzig Jahre zuvor waren zu frisch, als dass sie nicht zu unmittelbaren Vergleichen eingeladen hätten.

Vor dem Einmarsch in der CˇSSR hatten die intervenierenden Mächte in einem Schreiben an Dubcˇek ihr Vorgehen damit begründet, dass es nicht zugelassen werden könne, «dass feindliche Kräfte Ihr Land vom Weg des Sozialismus stoßen und die Gefahr eine Lostrennung der Tschechoslowakei von der sozialistischen Gemeinschaft heraufbeschwören. Das sind nicht mehr nur Ihre Angelegenheiten.»[56] Nach dieser bald «Breschnew-Doktrin» genannten Formel war fortan jede Reformbewegung in den RGW-Staaten von der Intervention durch die Bruderländer bedroht. Die Parallelen zu 1956 waren in der Tat erstaunlich: Eine Phase



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